Interview- Seite 4

Das Knäuel ist für mich das ultimative Abbild unserer Welt – im Unendlichen unseres Universums genauso wie im kleinsten Vorstellbaren! Denn ganz egal wo oder was: Die gerade Linie scheint mir reine Fiktion, ein theoretisches Konstrukt bzw. Wunschdenken zu sein! In der Komplexität unserer Realität herrscht doch eher das Knäuel: ob in der Verwobenheit unserer Beziehungen mit all ihren Haupt- und Nebenpfaden, mit ihren Kumulationspunkten und Widersprüchen – und um den Bogen weit zu spannen – bis in die Struktur der Bausteine unseres Lebens wie die Proteine. Mich fasziniert hierbei: Ein Knäuel ist nicht ausrechenbar, es erscheint uns chaotisch und nicht genau erklärbar – von jedem Blickwinkel auf ein Knäuel ergibt sich ein anderes Bild. Und das Schönste: Es ist universell und zugleich höchst individuell, denn jeder hat schon mal eins gesehen und jeder kann sich mit einfachem Material – zum Beispiel mit einem Stück Draht – und mit wenigen Handgriffen sein ganz eigenes Universum herstellen. Das Knäuel ist für Dich Ausdruck des Universellen, des Unendlichen – ja letzthin des Göttlichen – siehe Deine Arbeiten aus der Serie Kreuzigung? Ich kann mir keine bessere Form zur Versinnbildlichung all dessen vorstellen! Wie bist Du zur Plastik gelangt? War es immer schon Dein Wunsch, Plastiken zu machen? Mein Verhältnis zu Skulpturen und zu Plastiken war zunächst sehr ambivalent: Sie interessierten mich von frühester Jugend an, aber gleichzeitig irritierten bzw. verwirrten sie mich, da ich immer das Gefühl hatte, es fehlen die Arbeiten, mit denen ich mich wirklich identifizieren kann, die für mich sprechen könnten. Mit der Zeit wurde mir immer deutlicher, dass es hier eine Fehlstelle gab – dies brachte mich dazu, dann selber in die Plastik zu gehen und das Arbeiten im Plastischen hatte sofort etwas Selbstverständliches. Ich hatte und habe noch immer das Gefühl, dass ich auf diesem weiten Feld meinen eigenen Claim abstecken, beackern und Früchte nach den eigenen Vorstellungen aus der Erde ziehen kann. Hier kann ich mich positionieren und verorten, hier kann ich Wurzeln schlagen. Wie ist die Herangehensweise beim „Plastikenmachen“? Das plastische Arbeiten erfolgt in einem eher meditativen Prozess und benötigt viel Zeit. Plastiken fordern mich ständig auf, sie zu umkreisen, zu durchdenken, zu überarbeiten, ihrem Charakter bzw. ihrer Persönlichkeit nachzuspüren – vergleichbar vielleicht mit einem Kind, das geboren wird, das wächst und ständige Zuwendung braucht, dessen Stärken und Schwächen man zu erkennen und in der Folge zu fördern bzw. auszugleichen sucht usw., bis aus dem Kind ein erwachsener Mensch, eine Persönlichkeit geworden ist, die ihren eigenen Weg beschreitet. Du arbeitest in der Hauptsache mit den Farben Schwarz, Weiß und Rot. Diese Farben bzw. deren Kombinationen repräsentieren in vielen Bildwerken und Handschriften des Mittelalters die Alchemie und das Okkulte.3 War und ist Dir das bewusst und siehst Du Deine Arbeiten auch in dieser Tradition? Nein, das war mir nicht bekannt. Ich finde die Farben Rot, Schwarz und Weiß einfach für meine Arbeiten passend, mehr ist da nicht. Du hast einmal davon gesprochen, dass Du Dich mit dem plastischen Arbeiten „auf Deine eigene Spur gesetzt hast“ – wie ist das zu verstehen?  Damit hatte ich einen Aspekt aus meiner Familienbiografie gemeint: Mein Vater, mein Großvater und einige andere meiner männlichen Vorfahren arbeiteten im Holzhandwerk sowie in angrenzenden Bereichen. Ich glaube, dass auch auf diesem Weg die Leidenschaft zur plastischen Arbeit sowie das Interesse an dem Material an mich weitergereicht wurden. 1  Eine Textzeile aus dem Song Ich Hab’s Gesehen (2006) der Hamburger Band Kante. 2  Gemeint ist die Arbeit Fountain (dt. „Brunnen“) (1917) von Marcel Duchamp, ein um 90 Grad gedrehtes Urinal (Musée national d’art modern, Centre Georges Pompidou Paris). 3  Vgl. Jörg Völlnagel, Alchemie Die königliche Kunst, Köln 2012. Das hier abgedruckte Gespräch wurde am 9. Mai 2015 und 5. Juni 2017 im Berliner Atelier des Künstlers geführt.